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Sehr geehrter Mr. O-Ton,

in unserem letzten nicht-öffentlichen Chat, den wir über eine sehr beliebte Gay-Community geführt hatten, ging es um den experimentellen Komponisten John Cage, die Singer/Songwriter Jay Brannan und Christopher Dallman und die Briten von Everything But The Girl. Da ich mich nur sehr schlecht mit Cage und Dallman auskenne, möchte ich dir das Beginnen der anderen Themen überlassen. 😉

Etwas besser dafür weiß ich u.a. über Everything But The Girl Bescheid. Soweit ich weiß, ist das eines dieser typischen Mann-Frau-Duos, bei dem die Frau – hier Tracey Thorn – singt und vorne ist und der Mann – Ben Watt – im Hintergrund die musikalischen Fäden zieht. Bei dieser Bandkonstellation fallen mir zig weitere geschlechtergemischten Duos ein (Sonny & Cher, Ike & Tina, The Kills, etc.), aber nur wenige, bei denen nur der weibliche Part in der Öffentlichkeit wirklich präsent ist: Goldfrapp oder The Carpenters zum Beispiel.

Ich kenne aus meiner Kindheit – da warst du sicherlich End-Teenager oder Twen – eigentlich nur ihren einzigen großen Hit „Missing“, sowohl die Remix- als auch die naturbelassenere ruhigere Version. Dank des Mitte der 90er-Jahre oft gespielten Musikvideos mit der melancholisch dreinblickenden Kurzhaar-Frau und dem dürren bärtigen Mann. Da gab es bestimmt auch andere weniger bekannte Songs, die ich einst gehört, aber wieder vergessen habe. Außerdem habe ich Tracey Thorns Solo-Sachen mal gehört, aber nur peripher, dadurch blieb nicht viel hängen. ganz wenige Songs ihres zweiten eigenen Elektropop-Albums (2007) und ein oder zwei Lieder ihres Singer/Songwriter-Pop-Dings (2010). Ansonsten habe ich EBTG als eines dieser One-Hit-Wonder abgestempelt. Zu Unrecht?

Jetzt war ich soeben auf ihrer englischsprachigen Wikipedia-Seite und wäre fast vom Stuhl gefallen wegen einer Sache: die Anzahl der Genres, die EBTG abdecken. 31!!! Nicht nur Naheliegendes wie Sophisti-Pop, TripHop, Pop Rock oder Downtempo lässt sich „rechts oben“ finden. Watt und Thorn werden genretechnisch gar mit Progressive House, Techno und Dubstep in Verbindung gebracht! Das ist Vielfalt, von der sich die meisten Bands noch eine Scheibe abschneiden könnten.

Gehören Everything But The Girl demnach zu den am meisten unterschätzten Bands überhaupt? Was meinst du dazu, Mr. O-Ton? 🙂

07.08.2011 19:35

Aber hallo Herr A-Ton,

One-Hit-Wonder, ja; unterschätzt, auch ja!
Auch ich erinnere mich an die 90er und an Missing. Eines der Lieblingslieder meiner Fag Hag zu der Zeit. Oft gehört auf dem Weg zu Disko zwischen Heilbronn und Stuttgart im Auto. Damals fand ich das Lied grade mal okay und natürlich zu Mainstream und ich habe nicht viel mehr von der Band erwartet. Bis dann vor zwei, drei Jahren einer meiner musikbegeisterten Bekannten davon anfing, dass EBTG ja eine seiner Lieblingsbands waren und sind und Tracy Thorn mit ihrer Stimme und überhaupt. Ich hab dann angefangen mir ein paar andere Sachen von denen anzuhören und habe nach und nach einen Schatz gehoben, dessen Ausmass ich noch nicht ganz abschätzen kann. Als ich dann auf Tracy Thorns Soloprojekte aufmerksam wurde und gehört habe, dass sie einen Song mit Jens Lekman aufgenommen hat, waren meine anfänglichen Zweifel gänzlich verflogen.

Noch bin ich keineswegs ein Kenner der Musik von EBTG, aber wenn sie, Herr A-Ton, von den vielen unterschiedlichen Gengres überrascht waren, kann ich deren Existenz in der Musik von EBTG nur bestätigen. Schön zu hören ist das in dem Album Back To Mine, das als Konzeptalbum oft nur auf Instrumentales und Sprachsamples setzt. Tracy Thorns Stimme ist da oft der Ruhepunkt in einem weiten Bogen von Stilen, Loops und Samples, die eine Melodie findet und einen Song formt, der fragil im bunten Treiben des Gesamtsounds schwebt.

Wenn man das hört, kann man sich vorstellen, dass Missing als Kulmulation, als Verdichtung aus dieser Klangwolke wie ein Blitz herausfuhr und den Hit landete. Ich höre den Song heute auch ganz anders als damals, kann ihn viel mehr geniessen und finde ihn mitunter einen der traurigsten Songs der Popgeschichte.

Ich könnte mir vorstellen, dass ihnen Herr A-Ton, dieses Album auch gefallen würde, erinnert es mich doch an die von ihnen kürzlich entdeckten The Avalanches. Anspieltipp wäre vom Album Back To Mine das schöne Beth Orton Cover von Stars All Seem To Weep

Und hier, als kleines Schmankerl, von der letzten Soloplatte von Tracy Thorn: Oh The Divorces! Ein Song, der nochmal zeigt welche Bandbreite ihre dunkle, melancholische Stimme auch bei einem minimalen Set hat.